Liebe Menschen,

wir alle sind wohl zutiefst erschüttert über die Horror-Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten/ Gaza-Streifen. Umso mehr scheint es uns wichtig, für die Menschenwürde aller Menschen einzutreten. Im Windschatten dieses schrecklichen Geschehens wird hier in Deutschland gegenwärtig intensiv daran gearbeitet, die Rechte geflüchteter Menschen, und insbesondere muslimischer Schutzsuchender massiv einzuschränken. Auch hier ist unsere Stimme für die Menschenwürde aller Menschen gefordert.

1.     Aktuelles aus der BI

Wir tauschen uns gegenwärtig intensiv aus, was wir als BI in dieser schrecklichen, gleichzeitig sehr komplexen Situation im örtlichen Rahmen für ein friedliches Zusammenleben hier und den Schutz der Menschenwürde beitragen können. In unserer Gruppe sind auch Menschen sowohl mit jüdischen wie auch mit muslimischen Wurzeln. Unter „Hintergründe“ unten findet Ihr einige Beiträge zu diesem Thema.

Unter anderem in diesem Licht sehen wir auch die Debatte, ob Schulräume auch für politische Veranstaltungen genutzt werden dürfen. Anlass war die AfD-Veranstaltung im September in der Aula des Schulzentrums Süd in Buxtehude. Es gibt ja gute Gründe, dass man diese großteils rechte bis rechtsextreme Partei dort nicht haben will; so hatte sich ja auch der Schulelternrat positioniert. Trotz dieser verständlichen Bedenken treten wir für nicht weniger sondern mehr politische Diskurse und Aufklärung ein, siehe jetzt auch ganz konkret öffentliche Debatten gegen Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit und andere Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Hier sind zwei Leserbriefe angehängt, die dazu von Mitgliedern der BI geschrieben wurden.

Die BI hat  für die Opfer der jüngsten Erdbeben-Katastrophe in Afghanistan in der Provinz Herat 500 Euro gespendet. Die Spende wir über die Welthungerhilfe abgewickelt, die verlässliche Kontakte in die Region hat.

Wir können das tun, weil wir immer wieder und allein in diesem Monat rund 400 € Spenden an die BI bekommen haben. Wir sind sehr dankbar für diese Unterstützung und den Vertrauensbeweis bezüglich unserer Arbeit. Dadurch wird uns ermöglicht, in sehr unbürokratischer Weise Menschen in Notsituationen zu helfen. Wir freuen uns sehr, wenn z.B. bei Geburtstagen o.ä. eine Spendendose für die BI aufgestellt wird. Gern schicken wir dann auch Material wie unsere Flyer oder unser Menschenwürde-Plakat.

Auch weiterhin bietet ein befreundeter Ausländerrecht-Anwalt für die BI kostenlose Rechtsberatung an. Wer eine Beratung benötigt, melde sich bitte an bi-menschenwuerde@gmx.de, damit die Gespräche koordiniert werden können.

Bei der Resolution „Die Jesiden flohen vor einem Völkermord und jetzt will Deutschland sie zurückschicken?“, die ich kürzlich weitergeleitet habe, war ein Fehler enthalten: die Jesiden sind keine christliche Minderheit im Irak sondern haben eine eigenständige Religion. Dies ändert jedoch nichts an der Notwendigkeit, für ihre Rechte zu unterschreiben.

Das nächste Treffen der BI findet am Mittwoch, den 6.12. um 19 Uhr in Buxtehude statt. Ggf. bitte anmelden (bi-menschenwuerde@gmx.de).

2.     Praktisches

Im Anhang erhaltet Ihr den Newsletter Fremd & Vertraut 11. 23 mit aktuellen praktischen Informationen rund um geflüchtete Menschen, ihre Helfer*innen und Integration hier im Landkreis.

3.     Termine

Das Netzwerk Rassismuskritische Schulpädagogik lädt zusammen mit EOTO e.V. zu einer Onlinetagung „Utopien im Hier und Jetzt: Visionen für eine Rassismuskritische Schule – Perspektiven für Schulentwicklung und Schulpädagogik“ am 7.11.2023 ein, 16:00 – 20:00 Uhr statt.

„Jobmesse für Geflüchtete und Interessierte im Landkreis Stade“ am 09. November 2023, 10 – 16 Uhr, Jobcenter im Landkreis Stade, Am Güterbahnhof 8, 21680 Stade. Näheres dazu in der angehängten Einladung.

Reminder: Der nächste Ehrenamtsstammtisch findet am 15.11.2023 um 19 Uhr im Begegnungscafé, Bahnhofstrasse 9 in Buxtehude statt.

Reminder: OMAS GEGEN RECHTS in der Paulus-Gemeinde, Buxtehude, Finkenstr. 53 am 17.11.23, 19 Uhr: PAULZ-ABEND ÜBER VÖLKISCH GEPRÄGTE GESINNUNG MIT PASTOR I.R. MARTIN RAABE.

Am 18.11.23 führt der Niedersächsische Flüchtlingsrat in Hannover ein weitere landesweites Initiativentreffen durch. Ihr findet die Einladung sowie einen Bericht des letzten Initiativentreffens vom 16.09.23 unter diesem Link: https://www.nds-fluerat.org/veranstaltungen/initiativentreffen-asyl-flucht-in-hannover/s. Eine Anmeldung bitte schicken an: moy@nds-fluerat.org.

4.     Hintergründe

Wir haben Euch hier einige Beiträge zusammengestellt, die Mitglieder der BI für relevant für die Diskussion der aktuellen schier unerträglichen Situation in Israel/Gaza halten:

·         Carolin Emcke, Nahost-Konflikt:Die toten Winkel der Empathie, 20. Oktober 2023 (siehe Anhang)

·         https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/terror-der-hamas-warum-schweigst-du-immer-noch-kolumne-a-166e96a7-2336-4038-9c01-236921f05474

·         Slavoy Zizek: Der Krieg ist nicht Israel gegen Palästina, sondern Netanjahu gegen Hamas (siehe Anhang)

·         Ein Uni-Flugblatt mit einer Positionierung von Daniel Barenboim (2 Seiten im Anhang)

·         Robert Misik, Richtig und falsch zugleich, 24.20.2023 (in IPG-Journal. Das IPG Journal wird herausgegeben vom Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung https://www.ipg-journal.de/regionen/naher-osten/artikel/richtig-und-falsch-zugleich-7074/?utm_campaign=de_40_20231024

·         Rede von Antonio Guterres vor dem UN-Sicherheitsrat in New York am 24.10.2023. Die deutsche Übersetzung im Anhang.

„Generalverdacht – Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird“. „Generelverdacht“ unternimmt erstmals eine kritische Bestandsaufnahme des Clan-Mythos aus kriminologischen, rechtswissenschaftlichen, soziologischen und feministischen Perspektiven https://www.rosalux.de/publikation/id/51139/generalverdacht?pk_campaign=BWA&pk_medium=XX%2fXXXX

Herzliche Grüße

Barbara Erhardt-Gessenharter

Anhang:

2023 20 Leserbrief

Ingrid Smerdka-Arhelger

Bezug sind die verschiedenen Presseartikel dazu und die aktuellen Wahlergebnisse.

Ist die Forderung „Politik aus den Schulen herauszuhalten“ oder „Schulen als neutrale Orte“ zu gestalten klug i.S.v. demokratiefördernd? Sicher ist nicht der Unterricht in den Schulen gemeint, der ist ja laut Lehrplan zwingend geboten. Gemeint sind offenbar parteipolitische Veranstaltungen in den öffentlichen Aulen der Schulen. Aber auch das verwundert. Im GG Art. 21 (1) heißt es „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Und genau das soll ihnen in öffentlichen Räumen an Schulen untersagt werden? Ich unterstelle, dass schulische Bildung im Unterricht beinhaltet, dass Schüler*innen, sobald sie wahlberechtigt sind, ihr Wahlrecht zu Parlamenten, Landtagen usw. wahrnehmen sollten. Dafür brauchen sie ein Verständnis von Parteien als wichtige Akteure zur politischen Willensbildung, mit denen ein konstruktiver und kritischer Umgang gelernt werden muss. Wie soll das zusammengehen, wenn einerseits Parteien gewählt werden sollen, sie aber andererseits generell so stigmatisiert werden, dass sie nicht in die öffentlichen Räume an Schulen dürfen?

Vielleicht wollen die Protagonisten der Forderung auch nur die AfD nicht in den öffentlichen Schulräumen haben. Aber auch das ist im GG Art. 21 (4) geregelt: „Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 … entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“ Und das ist die Basis des damaligen Ratsbeschlusses. Nun steht die AfD „nur“ unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Aber auch unter Berücksichtigung dieses Tatbestandes galt es als völlig inakzeptabel, auf des grundgesetzlich verbriefte Recht der Parteien zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung auch in öffentlich genutzten Räumen an Schulen zu verzichten, nur, weil es die AfD gibt. Was sollte dann der nächste Rückzug von einem demokratischen Recht sein, nur weil es die AfD auch nutzen kann? Angesichts der aktuellen Wahlergebnisse in Bayern und Hessen gilt umso mehr, jede Gelegenheit des Eintretens für unser Grundgesetz und unsere demokratischen Werte und jeden Ort zu nutzen. So wird ein demokratischer Schuh daraus.

Leserbrief
Bezogen auf diverse Artikel zu Demonstranten gegen die AfD (23. und 28.9),

von Meike Heckt aus Buxtehude, Mitglied der Bürgerinitiative Menschenwürde (vgl. Pressemeldung der BI im BT vom 21.9.23)

In Zeiten, in denen menschenverachtende und rassistische Positionen von der AfD und anderen Rechten Gruppierungen vermehrt vertreten werden, sind wir als Bürger*innen gefordert, uns öffentlich, entschieden und kritisch dem entgegenzustellen. In diesem Sinne haben erfreulich viele Buxtehuder*innen bei der von den OMAS gegen Rechts organisierten Demonstration am 22.9. ihre demokratischen Möglichkeiten genutzt, dies eindrucksvoll zu zeigen. Ja, es ist unerträglich, dass sich Anhänger*innen der AfD in öffentlichen Räumen treffen und eine Teilnahme der Öffentlichkeit ausschließen können. Weder Presse noch Schüler*innen oder Öffentlichkeit hatten Zugang. Diese Regelung, Parteien bei Veranstaltungen in öffentlichen Räumen das „Hausrecht“ auch in diesem Punkt zu übertragen, sollte dringend geändert werden. Aber der Umkehrschluss, grundsätzlich keine politischen Veranstaltungen in Schulen zu erlauben, schießt weit über das Ziel hinaus und wäre letztlich kontraproduktiv. Das wäre eine falsche Selbstbeschneidung – wie wollen wir Politik aus unserem Leben heraushalten? Stattdessen sind politische Auseinandersetzungen unerlässlich für den Erhalt einer lebendigen und kraftvollen Demokratie. Solche Debatten müssen wieder viel offensiver geführt werden, auch von Schüler*innen und in Schulen, aber in dann wirklich öffentlichen Aulen – im Sinne demokratischer Vielfalt gegen antidemokratische Positionen. Es geht darum, überall klar Stellung zu beziehen gegen Rechte Gruppen, so wie es am 22.9. in Buxtehude stattfand: laut, kreativ, bunt und kritisch.

Paulus-Gemeinde, Buxtehude, Finkenstr. 53 am 17.11.23, 19 Uhr:

PAULZ-ABEND ÜBER VÖLKISCH GEPRÄGTE GESINNUNG MIT PASTOR I.R. MARTIN RAABE

„Antidemokratisches Denken macht unsere Gesellschaft kaputt.“ Pastor i. R. Martin Raabe spricht über völkisch geprägte Gesinnung Martin Raabe, engagiert sich als Sprecher des Bündnisses „Beherzt“, indem er auf die rechten Ideologien in der ländlichen Region in Niedersachsen hinweist und diese anprangert. Eindrücklich weiß Herr Raabe zu erzählen, wie er und seine Mitstreiter mit den völkisch gesinnten Nachbarn umgehen und wie die Gesellschaft mit diesen neuen Realitäten ringt.
Diese rechten Familien sind keine Neulinge in den ländlichen Regionen, sondern schon seit langem präsent. Konkret heißt das: In Dörfern zwischen Harburg und Celle, Dorfmark und Ludwigslust sind aktuell ca. 100 Familien, die mehr oder weniger aktiv, rechte Vorstellungen und rechte Lebensweisen verbreiten und völkisch geprägte Gesinnungen der Blut-und-Boden-Ideologie sowie des Reichsbürgertums propagieren.
Der Pastor hebt stets die Wichtigkeit hervor, sich öffentlich gegen solche Ideologien zu stellen. Er warnt in seinen Vorträgen davor, dass diese Gedankengänge, basierend auf Ausgrenzung und Hierarchien, die Errungenschaften der Zivilisation bedrohen und die dringende Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen wie dem Klimawandel blockieren kann.
In ländlichen Gebieten fürchten die Menschen sich vor der Konfrontation mit den rechten Nachbarn und meiden daher oft die Auseinandersetzung. Raabe berichtet, dass rechte Familien diesen Umstand nutzen, um Veranstaltungen zu organisieren und somit Einfluss gewinnen können.
Um ein Zeichen gegen diese Ideologien zu setzen, hat Raabes Gruppe, das „Beherzt“-Bündnis, begonnen, Kreuze an ihren Häusern zu platzieren. Diese sollen verdeutlichen, dass rechtes Gedankengut in dieser Gemeinschaft keinen Platz hat. Obwohl dies Mut erfordert und auch einige Ängste auslösen kann, hofft Raabe, dass es andere dazu inspiriert, ebenfalls Stellung zu beziehen.
Wir haben Pastor Martin Raabe eingeladen, um auch in Buxtehude dafür zu werben, sich den rechten Ideologien aktiv entgegenzustellen und mutig ein Zeichen dagegen zu setzen.

Carolin Emcke

Nahost-Konflikt:Die toten Winkel der Empathie

20. Oktober 2023, 15:52 Uhr

In Shefayim, Israel, beerdigten sie am vergangenen Dienstag beerdigten sie SHEFAYIM, ISRAEL – OCTOBER 17: Family, and friends of Yuval Solomon, who was mudered in Kfar Aaz, in Hamas‘ attack on the Kibbutz, mourn during his funeral on October 17, 2023 in Shefayim, Israel. As Israel prepares to invade the Gaza Strip in its campaign to vanquish Hamas, the Palestinian militant group that launched a deadly attack in southern Israel on October 7th, worries are growing of a wider war with multiple fronts, including at the country’s northern border with Lebanon. Countries have scrambled to evacuate their citizens from Israel, and Israel has begun relocating residents some communities on its northern border. Meanwhile, hundreds of thousands of residents of northern Gaza have fled to the southern part of the territory, following Israel’s vow to launch a ground invasion. (Photo by Amir Levy/Getty Images)

Wie umgehen mit dem Leid, der Gewalt und der tiefen Unsicherheit dieser Tage? Die Antwort kann nicht sein, im Namen der einen den anderen die Menschlichkeit zu verweigern. Sie muss in maximaler Zugewandtheit liegen.

Im Anfang ist nicht das Wort. Im Anfang ist die Sprachlosigkeit. Vielleicht muss es so beginnen. Mit der blanken Not, das Gemetzel jüdischen Lebens in seiner ganzen Gnadenlosigkeit zu erfassen. Mich zumindest hat es zuerst nur verstummen lassen. Die Worte werden gewogen und für zu leicht befunden. Unverfügbar alle Begriffe, die Sinn ergeben könnten in dieser Sinnlosigkeit. Ich schaue staunend auf das Tempo, mit dem andere zu reagieren wissen. Bei mir ist alles aus den Fugen. Ich misstraue Sätzen, die passend klingen, weil es mir nicht einleuchten will, wie es dafür eine passende Sprache sollte geben können. Ich misstraue öffentlichen Formeln, die alles richtig machen wollen, aber dann doch nur wie eilig dahinbehauptete Anteilnahme ohne Einfühlung klingen. Echte Anteilnahme ist nicht kostenlos zu haben. Sie tut weh oder sie ist keine.

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Carolin Emcke ist freie Publizistin. Ihre Kolumne erscheint einmal monatlich.

Aber natürlich gibt es Sprache. „Das Unsagbare, mit dem man uns ständig in den Ohren liegt, ist nur ein Alibi“, schrieb Jorge Semprun in seinen Erinnerungen an Buchenwald, „Schreiben oder leben“, „oder Faulheit“. Und so, tapsend, stockend, verzweifelt, suche ich nach Worten und ziehe sie, eines nach dem anderen, wie brüchige Perlen auf einen Faden. Vielleicht muss das erst eingestanden werden. Diese Langsamkeit im Verstehen, also im wirklichen Verstehen, was da geschehen ist: nicht nur die entfesselte Gewalt selbst, nicht nur die Anzahl der Toten und Verschleppten aus Kfar Aza, Be’eri oder Nahal Oz, sondern was sie anrichtet.

Den jüdischen Schmerz durchziehen verschiedene Zeitlichkeiten. Da ist der aktuelle, der seit dem Massaker die Angehörigen und die Freundesfamilien der Opfer martert, aber da ist, damit verkoppelt, auch der alte, erinnert oder vererbt, das Trauma der Shoah, das aufbricht. Überall um mich herum, in Israel bei den jüdischen Freundinnen und Freunden und hier bei uns, ist da die bittere Erfahrung der Schutzlosigkeit und des Alleingelassenseins. Jeder weitere Anschlag auf eine Synagoge, jede weitere antisemitische Verletzung wiederholt und vertieft die Verzweiflung, nirgends heimisch, nirgends sicher zu sein.

Gespräche reißen auf einmal ab, wenn es um die falschen Opfer geht

Wir wissen alle nicht, was nun geschieht, wohin die Gewalt noch ausstrahlen und sich steigern wird, was aus den Verschleppten wird, wie die humanitäre Lage in Gaza weiter zerrüttet, wie viel ziviles Leben noch versehrt und zerstört wird. Aber wir wissen, dass es nicht gehen wird ohne Anerkennung der jüdischen Erfahrung der Schutzlosigkeit – und der historischen Ursachen dafür.

Es gibt Risse im „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, wie Hannah Arendt es einmal genannt hat, und wir werden alle Zugewandtheit, allen Mut, alle Differenzierung brauchen, um die losen Fäden wieder aufzunehmen. Wir müssen den Stoff der Humanität, der uns miteinander verbindet als gleichwertige Personen, wieder weben. Im Moment sind da nur Fetzen. Sie zeigen sich, jeden Tag, in Gesprächen als Lücken. Wenn auf einmal etwas abbricht, wenn auf einmal eine Reaktion ausbleibt, wenn das Gegenüber verstummt, weil sie oder er auf das Leid der einen oder anderen Seite nicht reagieren will.

Es gibt tote Winkel der Empathie, Zonen, in die hinein nicht gedacht oder gefühlt werden will, weil es um Menschen geht, die als Feinde, als Fremde, als bloßes Kollektiv, nicht als Individuen gedacht werden. Ich habe eine enge Freundin im Gazastreifen. Wir kennen uns seit zwanzig Jahren. Während ich dies schreibe, weiß ich nicht, ob sie noch lebt. Ob sie von Bomben getötet wurde oder ohne Essen und Wasser eingeht. Alle meine jüdisch-israelischen Freunde fragen nach ihr, bangen mit mir und hoffen auf ein Lebenszeichen. Alle. Jeden Tag.

Aber hier, in Deutschland, wenn ich Freundinnen von ihr erzähle, setzt es auf einmal aus. Keine Nachfrage. Kein Bedauern. Bloß eine stumme Lücke. Hätte es das auch gegeben, wenn ich von einer jüdischen Freundin erzählt hätte? Ist das palästinensische Leiden bereits eingepreist? Haben sich alle daran gewöhnt? Oder gilt die Anteilnahme an der Not der Zivilisten in Gaza als Absage an Anteilnahme an jüdische Trauer? Das sind falsche Gegensätze. Es ist, als ob nicht mehr hingefühlt werden kann, sobald das Wort „Palästinenser“ fällt, als ob es innerlich eine Barriere gäbe. Auch für Palästinenser gibt es den Schmerz nicht nur im Singular, auch für sie wiederholt sich in der Gegenwart eine Erfahrung der Vergangenheit. Auch das braucht wirkliches Verstehen.

Wir können und dürfen nicht verhandeln, für wen Menschenrechte gelten

Universalistische Empathie ist eine ethische Praxis, die geübt sein will. Sie lässt sich nicht nur behaupten, sie muss sich beweisen. Allen gegenüber. Sie kennt keine Lücken. Empathie, wenn sie humanistisch sein will, kann nicht an identitäre Bedingungen geknüpft werden, jene Empathie, die sich nur denen einfühlen will, die einem ähnlich sind oder vertraut, ist ethisch verstümmelt. Barmherzigkeit, so erzählen es uns die biblischen Geschichten, erweist sich nicht nur denen gegenüber, die so aussehen oder sprechen wie wir selbst. Sondern sie ist voraussetzungslos. Sie gilt denen in Not, denen, die ein Antlitz haben. Menschenrechte sind Menschenrechte. Wir können und dürfen nicht erst verhandeln, wer alles als Mensch zählt.

„Anger is a bitter lock. But you can turn it“, schrieb die kanadische Dichterin Anne Carson in einem ihrer Verse. Das ist die Aufgabe, die sich uns, denen, die sich dem Schreiben verschrieben haben, aber auch allen anderen, in den Kommunen, in den Schulen, in jeder Familie stellt. Wir müssen den Zorn öffnen, der uns verhärtet und verschließt. Wer Ressentiment mit Ressentiment beantwortet, verliert sich selbst. Das ist, was die Gewalttäter sich wünschen: dass wir uns von allen humanistischen Normen verabschieden. Das ist die Einladung des Hasses, sich ihm anzuverwandeln, die wir ausschlagen müssen. Wir müssen einander zuhören, wir müssen achten auf das, was wirklich gesagt wird und was nur unterstellt wird, was vorgeblich gemeint war, wir müssen differenzieren und präzise Grenzen setzen, was nicht geduldet und ertragen werden kann. Nur das rettet unsere Humanität.

Der Redetext Guterres` in der deutschen Übersetzung

Den von der UNO veröffentlichten, englischen Redetext finden Sie hier.

Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis werde ich eine kurze Einführung geben und dann meine Kollegen bitten, den Sicherheitsrat über die Lage vor Ort zu informieren.
Exzellenzen, Die Lage im Nahen Osten wird von Stunde zu Stunde schlimmer. Der Krieg in Gaza tobt und es besteht die Gefahr, dass er sich auf die gesamte Region ausweitet. Spaltungen zersplitten Gesellschaften. Die Spannungen drohen überzukochen.
In einem entscheidenden Moment wie diesem ist es wichtig, sich über die Prinzipien im Klaren zu sein – angefangen beim Grundprinzip der Achtung und des Schutzes der Zivilbevölkerung.
Ich habe die schrecklichen und beispiellosen Terroranschläge der Hamas in Israel vom 7. Oktober unmissverständlich verurteilt. Nichts kann die vorsätzliche Tötung, Verletzung und Entführung von Zivilisten – oder den Abschuss von Raketen auf zivile Ziele – rechtfertigen.
Alle Geiseln müssen menschlich behandelt und sofort und bedingungslos freigelassen werden. Ich nehme mit Respekt die Anwesenheit ihrer Familienangehörigen unter uns zur Kenntnis.

Exzellenzen,
Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfanden. Das palästinensische Volk war 56 Jahre lang einer erdrückenden Besatzung ausgesetzt. Es hat miterlebt, wie sein Land ständig durch Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde. Seine Wirtschaft kam zum Stillstand; Seine Leute wurden vertrieben und seine Häuser zerstört. Seine Hoffnungen auf eine politische Lösung ihrer Notlage sind geschwunden.
Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die entsetzlichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese entsetzlichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.

Exzellenzen,
Sogar der Krieg hat Regeln. Wir müssen verlangen, dass alle Parteien ihre Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht einhalten und respektieren. Seien Sie bei der Durchführung militärischer Operationen ständig darauf bedacht, Zivilisten zu schonen. Und respektieren und schützen Sie Krankenhäuser und respektieren Sie die Unverletzlichkeit der UN-Einrichtungen, in denen heute mehr als 600.000 Palästinenser untergebracht sind.
Die unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens durch israelische Streitkräfte, die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung und die massive Zerstörung von Stadtvierteln nehmen weiter zu und sind zutiefst besorgniserregend.
Ich trauere und ehre die Dutzenden von UN-Kollegen, die für UNRWA arbeiten – leider mindestens 35 und mehr –, die in den letzten zwei Wochen bei der Bombardierung von Gaza getötet wurden. Ich schulde ihren Familien meine Verurteilung dieser und vieler anderer ähnlicher Tötungen.
Der Schutz der Zivilbevölkerung ist in jedem bewaffneten Konflikt von größter Bedeutung. Der Schutz der Zivilbevölkerung kann niemals bedeuten, sie als menschliche Schutzschilde zu nutzen.
Der Schutz der Zivilbevölkerung bedeutet nicht, mehr als eine Million Menschen zur Evakuierung in den Süden zu befehlen, wo es keine Unterkunft, keine Nahrung, kein Wasser, keine Medikamente und keinen Treibstoff gibt, und dann den Süden selbst weiter zu bombardieren. Ich bin zutiefst besorgt über die eindeutigen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die wir in Gaza beobachten.
Lassen Sie mich klarstellen: Keine Partei eines bewaffneten Konflikts steht über dem humanitären Völkerrecht.

Exzellenzen,
Glücklicherweise gelangt endlich humanitäre Hilfe nach Gaza. Aber es ist ein Tropfen Hilfe in einem Ozean der Not. Darüber hinaus werden unsere UN-Treibstoffvorräte in Gaza in wenigen Tagen zur Neige gehen. Das wäre eine weitere Katastrophe. Ohne Treibstoff kann keine Hilfe geleistet werden, Krankenhäuser haben keinen Strom und Trinkwasser kann nicht gereinigt oder gar gepumpt werden.
Die Menschen in Gaza brauchen eine kontinuierliche Hilfeleistung in einem Ausmaß, das dem enormen Bedarf entspricht. Diese Hilfe muss ohne Einschränkungen geleistet werden.
Ich grüße unsere UN-Kollegen und humanitären Partner in Gaza, die unter gefährlichen Bedingungen arbeiten und ihr Leben riskieren, um den Bedürftigen Hilfe zu leisten. Sie sind eine Inspiration. Um episches Leid zu lindern, die Lieferung von Hilfsgütern einfacher und sicherer zu machen und die Freilassung von Geiseln zu erleichtern, bekräftige ich meinen Aufruf zu einem sofortigen humanitären Waffenstillstand.

Exzellenzen, Selbst in diesem Moment großer und unmittelbarer Gefahr dürfen wir die einzig realistische Grundlage für echten Frieden und Stabilität nicht aus den Augen verlieren: eine Zwei-Staaten-Lösung.

Die Israelis müssen ihre legitimen Bedürfnisse nach Sicherheit verwirklicht sehen, und die Palästinenser müssen ihre legitimen Bestrebungen nach einem unabhängigen Staat im Einklang mit den Resolutionen der Vereinten Nationen, dem Völkerrecht und früheren Vereinbarungen verwirklicht sehen. Schließlich müssen wir uns über den Grundsatz der Wahrung der Menschenwürde im Klaren sein.
Polarisierung und Entmenschlichung werden durch einen Tsunami an Desinformation angeheizt. Wir müssen den Kräften des Antisemitismus, der antimuslimischen Bigotterie und allen Formen des Hasses die Stirn bieten.

Herr Präsident, Exzellenzen,
Heute ist der Tag der Vereinten Nationen und markiert den 78. Jahrestag des Inkrafttretens der UN-Charta. Diese Charta spiegelt unser gemeinsames Engagement für die Förderung von Frieden, nachhaltiger Entwicklung und Menschenrechten wider.
An diesem UN-Tag, in dieser kritischen Stunde, appelliere ich an alle, sich vom Abgrund zurückzuziehen, bevor die Gewalt noch mehr Menschenleben fordert und sich noch weiter ausbreitet.
Vielen Dank.